Los Pikachu! Wenn die Wirklichkeit virtuell wird
Computerspiele im Religionsunterricht sind alles andere als abwegig. Schülerinnen und Schüler lernen an ihnen über sich selbst zu reflektieren. Sie stärken die medienkritische Kompetenz. Eine Unterrichtsanregung für die Sekundarstufe I.
Mitte August 2016 ist der Sommer endlich
auch in Ingolstadt angekommen und ich
spaziere abends gegen 22 Uhr am hiesigen
Christoph-Scheiner-Gymnasium vorbei. Die Schule
liegt idyllisch am Rand der Altstadt, direkt an der
Donau. Trotzdem, mit dem Anblick, der sich mir bietet,
habe ich mitten in den bayerischen Sommerferien
nicht gerechnet. Über 30 Jugendliche stehen vor dem
Eingang der Schule oder sitzen auf den Steinstufen.
Ein junger Mann hat sich sogar einen Klappstuhl von
zu Hause mitgebracht. Was wollen so viele junge Leute
abends vor einer Schule, in den Sommerferien? Treffen
sie sich zum gemeinsamen Beobachten der Perseiden-
Schauer? Immerhin war der Namenspatron der
Schule ein weltberühmter Astronom. Ein Blick auf das
Smartphone verschafft Klarheit. Die Gruppe hat sich
zum „Pokémon Go“-Spielen verabredet.
Pokémon ist eine japanische Wortschöpfung und
kommt aus der dortigen Videospielkultur. Der Begriff
kann mit Taschenmonster übersetzt werden.
Ursprünglich für den GameBoy entwickelt, gibt es
mittlerweile Filme, Sammelkarten, Computerspiele
und ganz aktuell eine kostenlose Handyversion
des Spiels. Handlung und Spielmechanik sind immer
ähnlich. Eine Vielzahl von unterschiedlich starken, in
niedlicher Comicästhetik dargestellten „Monstern“
will vom Spieler – dem Pokémon-Trainer – eingefangen
werden. Die Pokémons werden dann trainiert
und entwickeln so stärkere Kräfte. In Arenen treten
sie gegeneinander an. Ziel des Spiels ist es, eine möglichst
große Anzahl von Pokémons zu sammeln und
die Monster zu größtmöglicher Stärke zu trainieren.
Im Fall des Handyspiels „Pokémon Go“ wird dieses
Spielprinzip mit einem Augmented-Reality-Element
verknüpft. Die Pokémons sind nicht ausschließlich im
Spiel versteckt, sondern finden sich als GPS-Koordinaten
auf einer realen Landkarte der Umgebung. Wer
ein bestimmtes Pokémon fangen möchte, muss also
erst zu dem Ort laufen, an dem es zu finden ist. In
ein von der Handykamera aufgezeichnetes Videobild
werden Pikachu, Rattfazz oder wie immer die einzelnen
Monster auch heißen hineinprojiziert. Virtualität
und Wirklichkeit verschmelzen miteinander. Die Spieler
fangen ihr Monster nicht im Spiel, sondern auf
einem Feldweg oder an der Bushaltestelle. Durch dieses
Prinzip können starke Immersionseffekte (Eintauchen
in die Welt des Spieles und Ausblenden der Realität)
bei Spielerinnen und Spielern auftreten. So ist
auch zu erklären, dass das relativ einfache Spielprinzip
– eigentlich geht es ja um virtuelle Sammelkarten
– so viele Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene
fasziniert.
Computerspiele im Religionsunterricht?
Aber warum soll ein solches Spiel Thema im Religionsunterricht
sein? Muss nun auch noch die Schule
und ausgerechnet der Religionsunterricht sich mit etwas
beschäftigen, das sowieso schon auf sämtlichen
Kanälen präsent ist? Sicher, wenn Schule sich allen
In der Auseinandersetzung mit der Virtualität lernen Schülerinnen und Schüler, wer sie in der Wirklichkeit sein möchten.
gerade aktuellen Phänomenen der Gegenwartskultur
andient, ist das zu Recht kritikwürdig. Um einfache
Anbiederung soll es hier aber nicht gehen. Wenn ein
Unterrichtsfach aus seiner spezifischen Perspektive
einen Beitrag dazu leisten kann, dass Schülerinnen
und Schüler sich kompetent in der Welt zurechtfinden,
dann kann das, was Kinder und Jugendliche bewegt,
sinnvoll in der Schule thematisiert werden.
Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht verwundern
mag, Medienthemen sind im Religionsunterricht
gut aufgehoben. Schließlich ist Religion grundsätzlich medial vermittelt. Ein Blick in die Bibel
offenbart eine große Menge an Medienereignissen:
der brennende Dornbusch für Mose (Ex 3,2), das leise
Säuseln für Elija (1Kön 19,12f), der Erzengel Gabriel
für Maria (Lk 1,28). Überspitzt formuliert kann man
behaupten: Religiöse Menschen sind Medienexperten.
Wer als Christ die Botschaft des brennenden Dornbuschs,
des englischen Grußes entschlüsselt hat, der
hat auch die Fähigkeit, hinter „profane“ Medien zu
blicken.
Auch aus diesem Grund hat die Deutsche Bischofskonferenz
im Jahr 2011 deutlich gemacht, dass Medienfragen
und religiöse Fragen sich nicht gegenseitig
ausschließen. Im medienethischen Impulspapier „Virtualität
und Inszenierung“ schreibt die DBK:
Wir zeigen uns, aber ebenso werden wir beobachtet.
Wir werden informiert und informieren, können
aber ebenso in die Irre geführt werden oder andere in
die Irre führen. Wir inszenieren uns, und wir werden
inszeniert. […] Im Sinne eines entsprechenden (aktualisierten)
Curriculums der Kommunikations- und
Medienkompetenz reicht es weder aus, bewahrpädagogisch
nur die Gefahren von Medien zu beschreiben
oder gesellschaftskritisch lediglich die Defizite des
gegenwärtigen Mediensystems anzuprangern. Für eine gelingende Teilhabe und verantwortete
Handlungsfähigkeit
im medialen Raum, die den Menschen
in den Mittelpunkt stellt,
muss vielmehr an dessen Bedürfnissen,
Fähigkeiten und Lebenswelten
Maß genommen werden.
Vor diesem Hintergrund erhält
der Einsatz von Computerspielen
im Religionsunterricht seine Berechtigung.
Die Schülerinnen und
Schüler können so angeleitet werden,
in einem spezifisch religiösen
Setting ihre ästhetische, ethische
und medienkritische Kompetenz
zu schärfen. Dabei geht es nicht
darum, Kindern oder Jugendlichen
ein Spiel zu verderben. Im Nachdenken
darüber, was ihnen am Spiel
Spaß macht, werden die Schülerinnen
und Schüler vielmehr dazu
angeregt, etwas über sich selbst zu
lernen. In der Auseinandersetzung
mit der Virtualität lernen sie, wer
sie in der Wirklichkeit sein möchten.
Das ist ein ernstes und sehr
persönliches Thema. Und gerade
aus diesem Grund eignet sich das
Medium Computerspiel, um es anzusprechen.
Es fungiert sozusagen
als medialer Abstandshalter, durch
den Schülerinnen und Schüler etwas
über sich preisgeben können.
Praxisanregungen
Die hessischen Lehrpläne sehen in
Hauptschule, Realschule und Gymnasium
für die 8. Jahrgangsstufe
das Thema „Ein eigener Mensch
werden. Entwicklung der Persönlichkeit“
vor. Das ist aus mehreren
Gründen sehr sinnvoll. Zum einen
sind die Fragen „Wer bin ich?“ und
„Wer möchte ich sein?“ in diesem
Alter sehr wichtig. Zum anderen
bieten digitale Medien im 21. Jahrhundert
vielfältige Möglichkeiten
zur Selbstinszenierung. Beispiele
dafür sehen Schülerinnen und
Schüler jeden Tag auf Online-Video-
Plattformen wie YouTube. Gerade
der Religionsunterricht ist
in der Schule der Ort, der Schülerinnen
und Schülern Raum für
eine Reflexion über solche Fragen
bieten kann. Schließlich gehört zu
einer gefestigten Identität nicht
zuletzt auch die Fähigkeit, sich begründet
zu Religion zu verhalten.
Zu Beginn der Auseinandersetzung
mit dem Spiel werden
den Schülerinnen und Schülern
Screenshots aus „Pokémon Go“ präsentiert,
die den Augmented-Reality-
Charakter deutlich herausstellen.
Spontan äußern sie sich zu
den Bildern und notieren anschließend
auf Wortkarten, warum das
Spiel in ihren Augen so beliebt ist
und – sofern sie es selbst spielen –
was ihnen daran Spaß macht. Die
Aussagen der Schülerinnen und
Schüler werden im Unterrichtsgespräch
diskutiert. In einem zweiten
Schritt erhalten die Lernenden den Auftrag, in Einzelarbeit für sich schriftlich folgende
Impulse zu bearbeiten:
Schreibe ein bis zwei Sätze, die beschreiben, wer
Du bist!
Beschreibe, wie das ist, wenn Du ein Computerspiel
spielst! Versetzt Du dich in die Hauptfigur hinein?
Wünschst Du dir manchmal, bestimmte Dinge auch
im echten Leben tun zu können? (Wenn Du keine
Computerspiele spielst, überlege, wie das ist, wenn
Du einen Film/YouTube-Video anschaust, Musik
hörst, ...)
Überlege, ob und wie Computerspiele (oder YouTube/
Musik) dein „echtes“ Leben beeinflussen!
Diese drei Arbeitsaufträge spiegeln eine Aufteilung
des Medienpädagogen James Paul Gee wider. Er
spricht im Zusammenhang von digitalen Medien von
realer, virtueller und projektiver Identität. Virtuelle
Identität bezieht sich dabei auf die Rolle, in die man
bei einem Computerspiel schlüpft (Die Person als
virtuelle Spielfigur). Reale Identität bezeichnet alles,
was Spielerinnen und Spieler von sich in eine Spielsituation
mitbringen (Die Person als virtuelle Spielfigur).
Die projektive Identität (Die Person als virtuelle
Spielfigur) wiederum ist die Schnittstelle zwischen
realer und virtueller Identität. Je nach Spiel ist die
Entwicklung eines virtuellen Charakters eine Aufgabe,
die sich durch die gesamte Spielhandlung zieht.
Wer als Christ die Botschaft des brennenden Dornbuschs oder des englischen Grußes entschlüsselt hat, der hat auch die Fähigkeit, hinter ‚profane’ Medien zu blicken.
„Pokémon Go“ ist hier ein gutes Beispiel. So kann es
geschehen, dass Spielerinnen und Spieler Konzepte
des Wünschenswerten auf die virtuelle Figur projizieren.
Projektive Identität meint die Art und Weise, wie
ein Spieler oder eine Spielerin einen virtuellen Charakter
formen möchte.
Mit den „drei Identitäten“ hat Gee einen Ansatz
vorgelegt, der es ermöglicht, das Sich-Hineinversetzen
in eine virtuelle Figur nachvollziehbar zu machen.
In der Unterrichtsstunde geht es selbstverständlich
nicht darum, den Schülerinnen und Schülern diesen
Ansatz verständlich zu machen. Die drei Impulse dienen
allerdings schon dazu, auf kind- bzw. jugendgemäße Weise über den Zusammenhang von virtuellen
Welten und realen Wünschen zu reflektieren.
Sie sprechen sehr persönliche Fragen an. Aus diesem
Grund werden sie auch nicht im Plenum thematisiert.
Sie dienen als Vorbereitung für eine anschließende
Placemat-Phase (Placemat ist eine Mischung
aus Schreibgespräch und Gruppendiskussion. Je vier
Lernende erhalten einen großen Bogen Papier, der in
fünf Felder aufgeteilt ist. Jeder Schüler erhält eines
dieser Felder und notiert darin in Einzel- und Stillarbeit
Gedanken und Assoziationen zu einem bestimmten
Thema. In einem nächsten Schritt haben die Gruppenmitglieder
die Möglichkeit, diese Texte zu lesen.
Anschließend folgt eine Diskussion, deren Ergebnis in
das fünfte „Gruppenfeld“ eingetragen wird.) In Gruppen
setzen die Schülerinnen und Schüler sich mit
der Frage auseinander, was es in einer mediatisierten
Gesellschaft bedeutet, wenn etwas echt ist, und
was man von „virtuellen“ Welten in das „reale“ Leben
übernehmen kann. Das sind keine leichten Fragen,
die anspruchsvolle Aufgabe, die dennoch dem Kompetenzbereich
der Jugendlichen zugeordnet ist – die
Religionslehrkraft hat schließlich keine Ahnung von
Computerspielen, YouTube-Videos, usw. –, fordert die
Jugendlichen aber heraus und es ist spannend, ihre
Ergebnisse zu erfahren.
Um die Gedanken der Schülerinnen und Schüler
noch einmal auf eine persönliche Ebene zu heben,
bekommen die Jugendlichen die Gelegenheit,
die Fragen „Wer bin ich?“
und „Wer möchte ich sein?“ mit Hilfe
eines weiteren Computerspiels zu
thematisieren. Das Spiel heißt „Passage“,
wurde von dem Künstler und
Informatiker Jason Rohrer entwickelt
und gehört zu einem der wenigen
Computerspiele, die als Kunstwerk
im Museum of Modern Arts (New York) ausgestellt
sind. Für den Einsatz im Unterricht kommen zwei äußerst
günstige Faktoren zusammen: Es ist kostenlos
und die Spieldauer beträgt ca. fünf Minuten.
Die Spielfigur ist ein kleines, zu Beginn des Spiels
blondes Männchen. Der Spieler hat die Möglichkeit,
diesen Charakter mit den Pfeiltasten durch eine bunte,
verpixelte Welt zu steuern, von der aber immer nur
ein schmaler Streifen in der Bildschirmmitte zu sehen
ist. Gut zu erkennen ist außerdem nur der Bereich direkt
um die Spielfigur. Der Rest des Spielfeldes verschwimmt
langsam. Bei der Erkundung dieser bunten
Welt trifft der Spielercharakter zu Beginn auf eine weibliche Figur. Er kann nun entscheiden, ob er seinen
Weg mit oder ohne die Frau fortführen will. Entscheidet
er sich für die erste Variante, dann erscheint
ein rotes Herz und die weibliche Figur folgt der männlichen
ab diesem Zeitpunkt. Die beiden Figuren setzen
ihren Weg gemeinsam fort und altern dabei. Dem
Mann fallen langsam die Haare aus, die Frau ergraut
und stirbt schließlich. Ihr Tod wird durch einen Grabstein
mit eingraviertem Kreuz symbolisiert. Ab diesem
Zeitpunkt geht der Mann vor Trauer gebückt und langsam.
Schließlich stirbt auch er und das Spiel endet.
Schülerinnen und Schüler einer 7. Jahrgangsstufe
an einem bayerischen Gymnasium interpretierten das
Spielfeld von „Passage“ als Zeitstrahl und beschrieben
das Spiel selbst als Metapher für das Leben. Sie
zeichneten einen Zeitstrahl mit den im Spiel dargestellten
Stationen „Geburt“, „Entscheidung für oder
gegen Partnerschaft“ und „Tod“. Im Anschluss gestalteten
sie ihre eigene Biografie um die Stationen des
Spiels herum. Sowohl vergangene als auch zukünftige
Lebensstationen wurden dabei aufgegriffen. Je nachdem,
wie viel Zeit zur Verfügung steht, können die
Jugendlichen das Spiel selbst spielen und die enthaltene
Minimalbiografie erarbeiten. Alternativ kann die
Lehrkraft z.B. den Zeitstrahl vorgeben.
In jedem Fall setzen die Schülerinnen und Schüler,
vorbereitet durch die Reflexion über „Pokémon Go und
die Frage nach dem Echten“, sich mit ihrer eigenen
Identität auseinander. Die in einer Unterrichtsstunde
von den Jugendlichen gezeichneten Zeitstrahl-Reflexionen
zeugten von einer tiefgreifenden, bei einigen
Schülerinnen und Schülern auch religiös geprägten
Auseinandersetzung mit dem eigenen bisherigen und
zukünftigen Leben.
In solchen Situationen leuchtet kurz auf, warum
die Playstation manchmal auch als Praystation verstanden
werden kann.
Zur Person
Michael Winklmann
studierte katholische Theologie
und Germanistik an der Otto-Friedrich-Universität
Bamberg; Referendariat für das Lehramt an Gymnasien
in Ingolstadt und Nürnberg, seit WS 2013 wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik des katholischen
Religionsunterrichtes und Religionspädagogik der
Universität Augsburg.