Traditionell lässt die europazentrierte historische Forschung die Neuzeit im 16. Jahrhundert, bisweilen sogar gekoppelt an den Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517 beginnen. Da dies weder einem Blick in die Weltbelange standhält noch die globalen Einflüsse auf die Dramen in Europa einfängt, geht es Marina Münkler nicht nur um eine Einordnung europäischer Politik in einen größeren Kontext, sondern auch um eine zeitliche Ausdehnung der Epoche, indem sie vom „langen 16. Jahrhundert“ spricht und damit die Zeit zwischen 1453 (Eroberung Konstantinopels) und 1610 (Bedeutungsverlust der Spanier und Portugiesen als Großmächte) meint. Inhaltlich hinterfragt sie in einer terminologischen Analyse die „Leiterzählung einer eurozentrischen Geschichtsschreibung“ (24) und minimiert damit das Gewicht...
Karl-Heinz Kohl: Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne
Joachim Valentin, Frankfurt a.M.
„Das ist kulturelle Aneignung“ (engl: cultural appropriation) – so tönt es allemal, wenn eine weiße Frau Dreadlocks trägt oder weiße Musiker Jazz oder Blues spielen, Gospel singen. Miles Davis hat angeblich weißem Publikum immer den Rücken zugedreht und erst sehr spät überhaupt mit Weißen gemeinsam musiziert. Ganz schlimme Aneigner sind auch Elvis und die Beatles.
Der Begriff hat natürlich seinen guten Grund: Immer wieder wurden von Schwarzen entwickelte Musik und andere Kunst, Bildtraditionen und Kulturleistungen indigener Personen oder Völker von Weißen nachgeahmt oder „weiterentwickelt“ – und plötzlich waren die Urheber (samt ihrer Urheberrechte) unsichtbar geworden....
Wofür engagiert man sich? Gewiss gerne für eine bessere Zukunft! Rahel Jaeggis Verdienst ist es, die Frage genauer zu nehmen. Sie macht sich die Antwort schwerer als bei Utopien gestern und technologischen Verheißungen heute. Nach der Entzauberung der Moderne muss heute tatsächlich gefragt werden – wie geht „ein Wandel zum Besseren“ und wie vermeidet man einen „Wandel zum Schlechteren“. Jaeggi empfiehlt, sich am Vorbild der lernenden Organisation zu orientieren und mittels einer Lernkultur in der gesamten Breite der Gesellschaft für Fortschritt und gegen Regression wirksam zu werden. Jaeggi will dafür mit ihrem Buch ein zeitgemäßes Fortschrittsdenken liefern, das zugleich „zeitdiagnostisch“ sowie „philosophisch und methodisch“ vorgeht. Einwände natürlich keine.
Bedenken schon: Es wäre...
„Sehen wir im anderen den Feind oder den Bürger der Demokratie?“ (139): Dies ist nach Julian Nida-Rümelin die grundlegende Frage, welcher wir uns heute stellen sollten – jenseits der Debatte darüber, was Cancel Culture im Einzelnen ist und ob es tatsächlich ein besorgniserregendes Phänomen unserer Demokratien darstellt. Um es vorwegzunehmen: Dass sie praktiziert wird, und das nicht erst seit kurzem, belegt eine „kleine Kasuistik“ von 48 typischen Beispielen seit 1351 v. Chr. (sic!), die Nathalie Weidenfeld am Ende der Abhandlung zusammengestellt hat (155-171). Dabei handelt es sich um „Eskalationsstufen“ von Fällen, in denen Meinungen verboten, Personen vom Diskurs ausgeschlossen oder sogar deren sozialer bzw. physischer Tod herbeigeführt wurden (155). Hexenverfolgung ist dabei etwa eine...
„Krieg“ – aktueller kann ein Buchtitel kaum sein. Doch womit kann der noch etwas zögerliche Interessent rechnen: einer fundierten Analysen über Gründe und Verlauf der gegenwärtigen Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen oder vielleicht einem ganz anderen Zugang? Das Cover mit der Zeichnung aneinandergereihter Leichensäcke deutet es schon an: Es geht um eine bildnerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Krieg. Wer das heute wagt, stellt sich – gewollt oder ungewollt – in eine Reihe mit Größen wie Francisco de Goya, Otto Dix oder Pablo Picasso. Was macht die Illustrationen von Drushba Pankow, die im Zentrum des Buches „Krieg“ stehen, sehens- und bedenkenswert?
Drushba Pankow ist ein Grafikkollektiv und besteht aus Alexandra Kardinar (*1972), Professorin für Illustration an der...
Die Ausgabe des Journals für Philosophie „der blaue reiter“ zum Thema „Krieg“ beleuchtet aus zahlreichen Perspektiven Grundfragen um den Themenkreis Krieg und Frieden und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur philosophischen Reflexion. Hintergrundfolie vieler Beiträge ist dabei die Ausweitung der russischen Invasion in die Ukraine vom 24. Februar 2022. Umso irritierender ist, dass Stimmen von direkt von diesem und anderen Kriegen betroffenen Philosophen fehlen.
Die Publikation ist vom Aufbau her stringent. So widmet sich etwa Sebastian Schneider in seinem Beitrag der Begriffsgeschichte des Kriegs und nähert sich einer Definition des Krieges über drei Dimensionen: Krieg als Zustand oder Akt von Gewalt, Intensität und Akteursqualität (8). Dennis Sölch konstatiert in der...
Den christlichen Glauben in der Gegenwart zu plausibilisieren ist eine Herausforderung für alle theologischen Disziplinen. De facto arbeitet jedoch vorrangig die Religionsdidaktik einigermaßen breitenwirksam auf diesem Feld, während Katechetik und Predigtlehre nur noch einen kleinen Kreis von Interessierten zu erreichen vermögen. Die Zeiten, in denen Hans Küng und Eugen Drewermann in bürgerlichen Kreisen gelesen wurden, sind wohl endgültig vorbei. Theologie und Glaube sind ein Nischenphänomen geworden.
Nun versucht sich der Kölner systematische Theologe Gianluca De Candia mit einem kleinen Büchlein an der apologetischen Herausforderung. Im Schnittfeld von Philosophie, Kulturhermeneutik und Theologie soll auf der Linie von Paul Tillich die gegenseitige Erschließung von Existenz und Glaube...
Dass die Welt nicht nicht ist, galt lange Zeit als hinreichender Ausweis ihrer besonderen Würde, ja sogar als kosmologischer Gottesbeweis. Warum die Welt ist, wie sie ist, erklärte sich dabei quasi von selbst (durch die Schöpfung und den notwendigen Respekt vor ihr), so dass en passant allen Beteiligten Bedeutung zugeschrieben werden konnte – der Welt (als Werk), Gott (als Schöpfer) und dem Menschen (als respektables Geschöpf, nicht zuletzt im Sinne seines unerlässlichen Respekts für die Schöpfung und den Schöpfer).
Warum die Welt heute so ist, wie sie ist, will sagen: in so schlechter (ökologischer, politischer, wahrscheinlich darf man auch sagen: kirchlicher) Verfassung, führt konsequenterweise dazu, sich zu fragen, wer die Verantwortung dafür trägt. Bedeutsam genug wären dafür im...