Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Dokumentarfilm COURAGE, www.courage-film.com

Couragiert handeln in Europas letzter Diktatur

Eine Unterrichtsreihe für die Sekundarstufe

Hau ab, Lukaschenko«, »Freies Belarus« und
»Lukaschenko, ab in den Polizeiwagen«. Diese
Parolen waren im August 2020, nur wenige
Tage nach der umstrittenen Wiederwahl Alexander
Lukaschenkos zum belarussischen Präsidenten,
in ganz Minsk zu hören. Hunderttausende Belarussen
und Belarussinnen zogen mit weiß-rot-weißen
Flaggen der Opposition und Protestplakaten durch
die Straßen von Minsk bis zum »Palast der Unabhängigkeit
«, der Residenz von Machthaber Alexander
Lukaschenko, um sich offen gegen Lukaschenko
und sein menschenverachtendes Regime auszusprechen
und seinen Rücktritt zu fordern. Auf diese Weise
brachte eine Nation ihren tiefen Wunsch nach Demokratie,
Freiheit und Menschenwürde zum Ausdruck.
Gleichzeitig zogen insbesondere junge Menschen die
Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf sich
und riskierten damit ihr Leben und das Leben ihrer
Angehörigen.

Machterhalt in Belarus

Wie aber kam es zu derartigen Ausschreitungen in
einem Land, das bislang in der europäischen Öffentlichkeit
wenig in Erscheinung getreten war? Um die
Aufstände in Belarus verstehen zu können, lohnt ein
Blick auf die Regierungszeit Lukaschenkos. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurde Belarus
ein offizieller Staat mit Stanislau Schuschkewitsch
als erstem Präsidenten. Dieser wurde 1994 von
Lukaschenko abgelöst, einem aufstrebenden Politiker,
der aktiv gegen die Korruption in seinem Land ankämpfte.
Unmittelbar nach seiner Wahl sicherte sich
Lukaschenko die Kontrolle über das staatliche Fernsehen.
Wiederum zwei Jahre später löste er durch ein
Referendum das Parlament und das Verfassungsgericht
auf und verlieh sich das Recht, selbst Gesetze
zu erlassen. Oppositionelle Stimmen werden seither
konsequent unterdrückt. So kommt es täglich zu Verhaftungen
und Repressionen von Bürgerinnen und
Bürgern, die sich kritisch gegenüber Lukaschenkos
Regierungsstil äußern. Als Konsequenz der Massenproteste
von 2020 entwickelten Lukaschenkos Sicherheitsbehörden
ein Gesichtserkennungsprogramm, mit
dem Teilnehmende von Protesten ausfindig gemacht
und inhaftiert werden. Seither wurden Zehntausende
Menschen gefoltert und verhaftet. Das Äußern von
Kritik an dem Führungsstil Lukaschenkos in den sozialen
Medien kann bis zu zwölf Jahre Haft für einen
belarussischen Staatsbürger bedeuten. Obgleich Belarus
seit 1991 offiziell als Republik gilt, ist es bis
heute das einzige und letzte Land Europas, in dem
immer noch Todesstrafen vollzogen werden.

Dokumentarfilm COURAGE

Dass ein Großteil der Bevölkerung sowohl
vor den Wahlen im Jahr 2020 als auch danach
bereit war, auf die Straßen zu gehen und unter
Lebensgefahr für Demokratie und Freiheit
zu kämpfen, zeigt auf eindrückliche Art
und Weise der Dokumentarfilm COURAGE
(www.courage-film.com) des Künstlers Alikasei
Paluyan. In seinem Film begleitet
er drei junge Künstlerinnen und Künstler,
Maryna, Pavel und Denis, die eines eint: ihr
Wunsch und ihre Hoffnung auf Redefreiheit,
Demokratie und einen Machtwechsel.
Alle drei gehören einer im Untergrund arbeitenden
Theatergruppe in Minsk an, dem
Free Theatre Belarus. Grund für die Arbeit
im Untergrund sind die unter Lukaschenko
seit 2010 breit angelegten Kampagnen gegen
alle Personen aus der Musik-, Schauspiel-,
Kunst- und Literaturszene, die für ein unabhängiges
und demokratisches Denken und Handeln eintreten. Sollten Künstlerinnen
und Künstler mithilfe ihrer Arbeit offen
Kritik an Lukaschenko üben, werden sie inhaftiert,
gefoltert und auf eine sogenannte
»Schwarze Liste« gesetzt. Sämtliche Künstler
auf »Schwarzen Listen« haben in Belarus
ein Auftrittsverbot und dürfen von keinem
Theater beschäftigt werden. Während Maryna
und Pavel unerschrocken und mutig dem
Auftrittsverbot trotzen und heimlich Theaterstücke
aufführen, arbeitet Denis, ehemaliger
Schauspieler des Free Theatre Belarus,
als Mechaniker. Infolge der 2010 ausgesprochenen
Künstler-Verbote wurde Denis
gelistet und hat keine Anstellung als Schauspieler
mehr finden können. COURAGE begleitet
den mutigen und friedlichen Widerstand
von Maryna, Pavel und Denis vor und
während der Proteste. Der Film wirft einen sehr persönlichen Blick auf die Ereignisse und gibt so
einen nahen und packenden Einblick in das Leben der
Menschen im heutigen Belarus, die durch ihre Teilnahme
an den Protesten im Jahr 2020 nur knapp der
Verhaftung und Folter entgehen. Damit stehen Maryna,
Pavel und Denis stellvertretend für viele Belarussinnen
und Belarussen, die durch ihre Courage, ihren
Mut und ihren Glauben an ein gerechtes System Vorbilder
sind im Kampf gegen Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen.
Gleichzeitig sind sie leuchtende
Beispiele dafür, dass es immer wieder Menschen
in der Geschichte gibt, die ihrem Ruf, ihrem Gewissen
folgen, obwohl sie starke Repressalien zu befürchten
haben.

»Belarus ist bis heute das letzte
Land in Europa, in dem noch die
Todesstrafe vollzogen wird«

Julia Ernst
Einsatz im Unterricht

Die vorliegende Unterrichtsreihe regt zur kritischen
Auseinandersetzung mit Europas letzter Diktatur an
und soll Schülerinnen und Schüler (SuS) dazu befähigen,
ihre eigene Mitverantwortung als Christinnen
und Christen bei der Gestaltung einer freien Welt zu
hinterfragen. Gewissensfreiheit und die eigene
persönliche Verantwortung als wesentliches
Element der christlichen Nächstenliebe sind
Voraussetzung, um couragiert und aktiv zu
handeln und das eigene ethische Handeln zu
verorten.

Da es sich bei den Massenprotesten 2020 um
ein sehr komplexes und den SuS weitgehend
unbekanntes Thema handelt, ist der Reihe ein
Einführungsmodul vorangestellt, das inhaltlich
auf die Arbeit mit dem Film COURAGE vorbereiten
und vorentlasten soll. Bevor sich die SuS dezidiert
mit möglichen Formen couragierten Handelns auseinandersetzen
können, sollten sie verstehen, dass Lukaschenko
sehr gezielt und in mehreren Schritten ein
diktatorisches System erschaffen hat. Was ein diktatorisch-
totalitäres von einem demokratischen System
unterscheidet, erarbeiten die SuS in einem ersten
Hinführungsmodul anhand von drei Unterrichtsmaterialien
(M1, M2 und M3). Im Anschluss daran
verfassen die Lernenden auf der Grundlage eines
Zeitungsartikels (M4) eine E-Mail an einen Freund
oder eine Freundin, in der die politische Situation
in Belarus im Jahr 2020 geschildert und kritisch beleuchtet
wird. Optional eingesetzt werden kann die
Karikatur M5, die nicht nur das diktatorische Handeln
Lukaschenkos anprangert, sondern den Wunsch
einer ganzen Nation widerspiegelt, in einem freien
Land zu leben.

Einführungsmodul: Was zeichnet Diktaturen aus?

In Bezug auf das Einführungsmodul sind
zwei Einsatzmöglichkeiten im Unterricht
denkbar. Die Materialien können entweder
ohne Erstkontakt mit dem Film eingesetzt
werden, oder die Lehrkraft zeigt ihren SuS
die ersten zweieinhalb Minuten des Films,
bespricht erste Eindrücke, offene Fragen
oder Unklarheiten und nutzt die Materialien
des Einführungsmoduls, um einen ersten
Einblick in Diktaturen im Allgemeinen und
in Belarus im Speziellen zu geben. Die Stundenvorschläge
samt Materialien des Einführungsmoduls
sind als optionale Angebote
zu verstehen und müssen nicht in Gänze
bearbeitet werden. Sollten der Lehrkraft nur
wenige Stunden zur Verfügung stehen, kann
beispielsweise nur das Material M4 des
Einführungsmoduls eingesetzt werden, um
einen Einblick in das totalitäre Belarus zu
verschaffen.

Insgesamt ist die Reihe so konzipiert, dass
Lehrkräfte je nach individueller, klassenspezifischer
Themenschwerpunktsetzung einzelne
Stunden auswählen können. Sämtliche
Materialien können individuell kombiniert
werden und ermöglichen so einen sehr flexiblen
Unterrichtseinsatz. Darüber hinaus
ist die Reihe so angelegt, dass SuS meistens
zwischen unterschiedlichen Arbeitsaufträgen
auswählen können. Auf diese Weise
gelingt eine sehr individuelle und auf die
Fähigkeiten der Jugendlichen zugeschnittene
Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand.
Unabhängig davon, ob
und wie intensiv mit den Materialien des
Einführungsmoduls gearbeitet wird, dient
das für die Unterrichtseinheit entwickelte
Tafelbild T1 als Sicherung des Einführungsmoduls
und gleichzeitig als inhaltlicher Anker
für die Arbeit mit dem Film. So werden
alle in dem Stufenmodell T1 angedachten
Bausteine einer Diktatur im Zuge der Reihe beispielhaft aufgegriffen und intensiv besprochen
(siehe »Die belarussische Kunst- und Kulturszene am
Beispiel des Free Theatre Belarus« oder »Die Rolle der
OMON« oder »Zum Umgang mit Oppositionellen«).
Über die Analyse einzelner Filmsequenzen sollen die
SuS verstehen, dass Lukaschenko sehr gezielt und in
mehreren Schritten eine Diktatur erschaffen hat, indem
er Oppositionelle ausgeschaltet, die Kulturszene
vernichtet und einen umfassenden Propagandaapparat
sowie eine auf ihn ausgerichtete Exekutive errichtet
hat.

Denkbar wäre, das Stufenmodell für jeden Lernenden
auszudrucken und im Zuge der Reihe einzelne
Bausteine immer wieder neu verhandeln zu lassen. Ist
ein umfassender Propagandaapparat Voraussetzung
oder Resultat einer Diktatur? Ist die Ausschaltung
von Oppositionellen Voraussetzung oder Resultat der Zensur der Kunst- und Kulturszene? Insgesamt
eignet sich das Stufenmodell sehr gut, um einen
intensiven Austausch über die Entstehung
und Festigung einer Diktatur anzuregen und
um zu verstehen, inwiefern sich Demokratien
von Diktaturen unterscheiden.

Hinführung zum Dokumentarfilm COURAGE

In einem zweiten Teil erfolgt zunächst eine
Hinführung zum Film, indem mithilfe des
Filmcovers und des Trailers über mögliche Inhalte
und Handlungsstränge des Dokumentarfilms
spekuliert wird. Darüber hinaus sollen
sich die SuS über unterschiedliche Zitate zur
Bedeutung der Begriffe »Courage« und »Verantwortung
« auseinandersetzen. Was bedeutet
couragiertes Handeln (für mich)? Wieso ist es
wichtig, für mich und für andere einzutreten?
Anschließend lernen die SuS die drei Hauptprotagonisten
anhand kurzer Filmauszüge
kennen und erstellen Steckbriefe. Wie leben
Maryna, Pavel und Denis? Welche Sorgen, Ängste,
Ideale, Hoffnungen, Fähigkeiten haben sie?
Die Steckbriefe können arbeitsteilig erstellt
werden. Je ein Drittel der Klasse beschäftigt
sich mit einem der Steckbriefe. An das Kennenlernen
der Protagonistinnen und Protagonisten
schließt eine Stunde an, die die belarussische
Künstlerszene in den Blick nimmt und
die Rolle und Kraft der Kunst, Literatur und
Kultur im Kampf gegen Diktaturen beleuchtet.
So erfahren die SuS, dass es die Kunstszene ist,
die durch Bücher, Theaterstücke und Unterhaltungsformen
zum kritischen Denken anregt
und die »Saat ausbringt«.

Massenproteste und Inhaftierungen

In einem nächsten Schritt untersuchen die
Lernenden die Massenproteste 2020 näher,
insbesondere die Vorbereitungen, die Pavel
und seine Schauspielkolleginnen und -kollegen
treffen, bevor sie demonstrieren. An dieser
Stelle des Films erkennen die SuS erstmals,
dass sich sämtliche Demonstranten in eine
lebensgefährliche Situation begeben und immer
damit rechnen müssen, inhaftiert zu werden. Dass zahlreiche unschuldige Menschen
während Demonstrationen festgenommen
und in Gefängnisse gebracht werden, zeigt
die Stunde »Inhaftierungen«. Angehörige
von Inhaftierten werden weder über den
Verbleib noch das Wohlergehen ihrer Kinder,
Ehepartner oder Freunde informiert.
Oftmals wissen Angehörige nicht einmal, in
welchem Gefängnis ihre Liebsten festgehalten
werden. Hoffnung schenken in diesen
Momenten freiwillige Helferinnen und Helfer,
die für belarussische Menschenrechtsorganisationen
arbeiten und jeden Tag vor
den Gefängnismauern vermisste Namen
dokumentieren, um die Regierung zur Aushändigung
offizieller Namenslisten von Inhaftierten
auffordern zu können. Wie es politischen
Gefangenen geht, können die SuS in
der Stunde »Mutige Frauen in den Gefängnissen
von Belarus« anhand eines Briefes
nachvollziehen, der von einer seit 2021 inhaftierten
Menschenrechtsverteidigerin an
eine Freundin geschrieben wurde. Auf diese
Weise gelingt eine sehr authentische Annäherung
an die Gefühlswelt von Gefangenen.
Zugleich zeigen Einzelschicksale den Mut
und die Verantwortung junger Menschen im
Kampf um Freiheit.

Die Spezialeinheit OMON

In den darauffolgenden beiden Stunden setzen
sich die SuS mit der sogenannten OMON
auseinander, einer Spezialeinheit der belarussischen
Miliz, die die Brutalität des
Lukaschenko-Regimes widerspiegelt und
erklärt, wie Lukaschenko seit Jahrzehnten
seine Macht festigen kann. Nicht nur die
für die Reihe ausgewählten Filmszenen,
sondern auch der Zeitungsartikel M7 zeigt
die Problematik des belarussischen Sicherheitsapparats
auf. Lukaschenko investiert
den Großteil der Staatseinnahmen in die
ideologische und praktische Ausbildung
von treuen Sicherheitskräften, die mit hohen
Löhnen und billigen Wohnungen gelockt
werden. Obschon die Massendemonstrationen
und das brutale Vorgehen zahlreicher
OMON gezeigt haben, dass Lukaschenkos
Sicherheitsapparat funktioniert, macht insbesondere
eine Filmszene des Dokumentarfilms
COURAGE Mut, in der sich ein junger OMON-Sicherheitsbeamter
eine weiße Rose an sein Schild
steckt und von Zivilisten geküsst und umarmt wird.
Solche Aufzeichnungen zeigen dem Betrachter zum
einen, dass Lukaschenko Widerstand aus seinen eigenen
Reihen heraus erfährt. Zum anderen zeigen sie,
dass ideologisch geschulte und durch das Lukaschenko-
System manipulierte Menschen verstanden haben,
dass das Bekämpfen des eigenen Volkes rechtswidrig
ist und unterbunden werden muss, auch wenn dies
bedeutet, dass man das eigene Leben riskiert.

Courage zeigen – Konsequenzen trotzen

In einem letzten Teil der Unterrichtsreihe soll das
couragierte Handeln der Protagonisten Denis, Pavel
und Maryna untersucht, diskutiert und mit dem eigenen
Verantwortungsbewusstsein abgeglichen werden.
So versetzen sich die SuS in einem ersten Schritt in die
Rolle Pavels, der in Form eines Tagebucheintrags die
Erlebnisse rund um die Massendemonstrationen reflektiert
und mögliche Zukunftsszenarien durchspielt.
In einem zweiten Schritt untersuchen die Lernenden
mögliche Konsequenzen couragierten Handelns für
die Protagonisten und erkennen, dass couragiertes
Handeln immer mit Repressionen, Ängsten und Zukunftsbefürchtungen
verbunden sind. Gleichzeitig
finden die SuS aber auch Antworten auf die Frage:
Wieso ist es mit Blick auf meine eigene Würde und
meine persönliche Verantwortung wichtig, mein Gewissen
zu hinterfragen und gegen Ungerechtigkeit
aufzustehen, anstatt die Augen zu verschließen? Über
ausgewählte Filmsequenzen verstehen die SuS, dass
die Protagonisten den Kampf um Freiheit und die damit
einhergehenden Gefahren über ihre Angst stellen
und damit zu Vorbildern werden.