Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Andreas List

»Auferstehender«

Überlegungen zu einer Skulptur von Thomas Schulze

Es gibt Liebesgedichte und Kruzifixe zuhauf.
Alles scheint gesagt, alles dargestellt. Dennoch
schreiben Dichter neue Liebesgedichte
und gestalten Bildhauer neue Kruzifixe. Warum? Zum
einen, weil jede Zeit nach ihrem je eigenen Ausdruck
verlangt. Und zum anderen, weil es für die Liebe zwischen
Menschen sowie der Liebe Gottes zu den Menschen
– die nach christlicher Leseart ja im Kreuzestod
des Gottessohnes Jesus Christus offenbar wird
– niemals eine endgültige künstlerische Gestalt geben
kann. Thomas Schulze wagt mit seiner Plastik »Auferstehender
« eine neuerliche Darstellung des Kreuzes
Jesu. Werfen wir zuerst einen Blick auf die Biografie
und das Werk des Bildhauers.

Thomas Schulze – Biografie und Werk

1958 in Jena geboren, absolviert Schulze eine Lehre
als Drechsler in der Keramikstadt Bürgel. Die Begegnungen
mit den Bildhauern Volkmar Kühn und Rainer
Stoltz wecken sein Interesse an der Plastik. Als Bildhauer
ist Schulze ein Autodidakt. Seit 1982 lebt und
arbeitet der Drechslermeister als Möbelrestaurator
und Bildhauer in der Gemeinde Wünschendorf an der
Elster im thüringischen Landkreis Greiz; seine Frau
Hirut, die in Äthiopien geboren wurde, spielt in seinen
Werken eine wichtige Rolle. Er stellt bereits seit 1979
aus; seine Arbeiten waren in über 60 Ausstellungen zu
sehen, im Sommer 2022 im Kunst- und Kulturzentrum
b-05 bei Montabaur.

Im Mittelpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit
steht die aufs Wesentliche reduzierte menschliche Figur.
Schulze hat mit Ton, Gips, Beton und Bronze gearbeitet.
Sein bevorzugtes Material indes ist das Holz.
Er verwendet sowohl einheimische wie tropische Hölzer,
deren unterschiedliche Beschaffenheit er sehr genau
kennt. Durch Schleifen, Beizen, Kalken, Bemalen
und Vergolden gewinnen seine Skulpturen ihre endgültige
Gestalt. In manchen Arbeiten konterkariert er
mit »heftigen Schnitten und Hieben … die Ästhetik
der schönen Linie« (Hans-Peter Jakobson). Als Künstler
verleiht Schulze totem Holz eine neue, ästhetische
und anthropomorphe Gestalt – mit der der Betrachter,
wenn er denn will, in einen Dialog treten kann.

Seine Arbeiten drehen sich um klassische Themen
wie Scheitern und Gelingen von Liebe (Paare), um Frau
und Erotik (weibliche Torsi) und um Verantwortung für das Zusammenleben; so hat er bereits
2011 einen lebensgroßen, von heftigen
Einkerbungen gezeichneten »Emigranten«
geschaffen. Hinzu kommen religiöse Bildwerke.
»Ich bin sehr dankbar«, schreibt
Schulze 2018, »dass mich Gott so ausgestattet
hat, dass ich … existentielle Fragen
künstlerisch verarbeiten kann.« Kein Wunder,
dass er sich intensiv mit der Gestalt
des Jesus von Nazareth auseinandergesetzt
hat. So ist für die über 1.000 Jahre
alte Pfarrkirche St. Veit in Wünschendorf
eine große dreiteilige Kreuzigungsgruppe
(1992/2003) entstanden. Bei dem
»Auferstehenden« aus dem Jahr 2021,
dessen erste Fassung von 2008 ist,
handelt es sich um ein Hauptwerk
des Künstlers – und seinen Beitrag
zu einem zeitgenössischen Christusbild.

Die starke Präsenz der Plastik
konnte der Verfasser gleich zweifach
an ganz unterschiedlichen Orten im Bistum Limburg erfahren: 2021 in
einem sakralen Raum, nämlich in der wunderbaren
Michaelskapelle neben dem Limburger
Dom, und 2022 in einem höchst profanen Raum,
nämlich an der weiß getünchten Wand eines jetzt
als Ausstellungsraum genutzten riesigen ehemaligen
Waffenbunkers im Kunst- und Kulturzentrum
b-05.

Ein zeitgenössisches Kruzifix

Auf einem Postament steht eine männliche Gestalt
mit ausgebreiteten Armen und einer Dornenkrone
aus Stacheldraht ums Haupt; sie ist nur
von einem Lendentuch bekleidet. Die bemalte
Holzskulptur hat die Form eines Kreuzes. Unser
Bildgedächtnis erkennt darin augenblicklich
den gekreuzigten Jesus, selbst wenn das
Marterinstrument Kreuz fehlt.

Der Gekreuzigte ist lebensgroß ausgeführt:
Er ist 170 cm groß, die Länge seiner ausgestreckten
Arme beträgt 160 cm. Die ganze Figur
ist nicht naturalistisch genau wiedergegeben,
sondern aufs Wichtigste vereinfacht. Der Leib ist schlank, die Finger grob ausgearbeitet;
die Füße sind mit dem Postament
zu einer stabilen Einheit verbunden. Die
Einkerbungen im Brustkorb lassen sich als
Rippen, aber auch als Folterspuren interpretieren.

Die Skulptur ist rot gefasst, wobei die
weißen Partien belebend wirken. Der weiße,
teilweise mit Blattgold überzogene Schurz
zeichnet sich deutlich auf dem dunkelfarbigen
Inkarnat ab; das erzeugt eine bildnerische
Spannung zum oberen Teil der Figur,
auf die sich die Aufmerksamkeit konzentriert.

Der ovale Kopf Jesu ist reduziert auf einen
schmalen, leicht geöffneten Mund, eine
breite Nase und große, dunkle Augenhöhlen,
aus denen keine geöffneten Augen auf den
Betrachter (hinunter) blicken. Ist Jesus tot?
Bewegung verleiht der statisch gestalteten
Plastik die Stacheldrahtkrone um das Haupt
Jesu, deren beiden Enden er in seinen Händen
hält. Genau diese Bildidee rechtfertigt
den Titel »Auferstehender«: Der Gekreuzigte
löst seine Dornenkrone auf, was keinem Toten,
sondern nur einem von Gott zu neuem
Leben Erwachten, dem auferstehenden Jesus,
möglich ist. Mit der sich verflüchtigenden
Spottkrone verquickt der Bildhauer den
Kreuzestod Jesu mit seiner Auferstehung.
Während der Betrachter am Leib des irdischen
Jesus deutliche Marterspuren ablesen
kann, ist der Hinweis auf seine Auferstehung
nur wenig anschaulich, ganz diskret.
Auf diese Weise schreibt der Künstler die
christliche Ikonografie fort.

Ein weiterer Aspekt verdient Beachtung:
Aus dem biblischen »Kranz aus Dornen« (Mt
27,29, Joh 19,2 und Mk 15,17) ist ein Kranz
aus dornigem Stacheldraht geworden. Nun
ist Stacheldraht eine Erfindung des 19. Jahrhundert
und kommt immer wieder im Zusammenhang
von Ausgrenzung, Unterdrückung
und Krieg zum Einsatz. Das hat dazu
geführt, dass Stacheldraht zu einem zeitgenössischen Symbol für menschenverachtende
Gewalt und politische Unfreiheit avanciert
ist. Aus dieser Perspektive betrachtet
repräsentiert der mit Stacheldraht bekrönte
Jesus die Opfer politischer Gewalt – und das
Entfernen des verletzenden Drahts die Hoffnung
auf eine friedliche Zukunft.

Thomas Schulzes »Auferstehender« kann
also durchaus säkular interpretiert werden
– und es bleibt den Betrachtern überlassen,
ihre eigene Deutung zu finden. Freilich wäre
ein sakraler Raum ein adäquater und würdiger
Ort für dieses Hoffnung stiftende Christus-Bildnis.