Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

All is One - „Ein Zusammenleben ist möglich.“

Eine israelische Metal-Band predigt den Frieden zwischen Juden, Christen und Muslimen. Kobi Farhi, der Sänger der Band „Orphaned Land“ im Interview

Die Frage stellte MATTHIAS CAMERAN

Alle, die zum ersten Mal von Orphaned Land hören und denen das Genre Heavy Metal fremd ist, mögen verwundert sein, dass eine Botschaft wie die eure in diesem Genre seinen Ausdruck findet.

Das liegt daran, dass viele stereotype Vorstellungen von der Metal-Community haben. Man urteilt immer nach dem Äußeren. Dabei sind die schwarze Kleidung oder die Toten-köpfe auf T-Shirts nur Show. Die Wahrheit ist, dass es wohl kaum eine Musikkultur gibt, die friedfertiger und offener ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Metal-Fans ein gutes Beispiel dafür sind, dass man sich trotz unterschiedlicher Herkunft oder Religion freundschaftlich und harmonisch miteinander zusammenfindet. Ich bin mir sicher, dass auch aus statistischer Perspektive Heavy Metal-Festivals zu den friedlichsten Großveran-staltungen gehören.

Mit Blick auf die zahlreichen Beiträge in der Musikpresse ist es nicht übertrieben, wenn man eure Musik als „einzigartig“ bezeichnet. Was ist das Besondere an Orphaned Land?

Das Besondere an meiner Band ist vor allem die Tatsache, dass wir aus Israel stammen und Themen aufgreifen, die mit Geschichte, Religion oder aktuellen Ereignissen in unserer Region zu tun haben. Letztlich haben wir die weltweite Metal-Szene erweitert, da wir als erste Band den kulturellen Hintergrund des Nahen Ostens in unser Schaffen haben einflie-ßen lassen. Es machte für uns weder Sinn, über Wikinger oder nordische Themen zu singen, noch Stiefel zu tragen, wenn wir in Flip-Flops laufen.
Nimm unser erstes Album Sahara, das 1994 veröffentlicht wurde. Wir waren eine israe-lisch-jüdische Band, die auf dem Cover ihres Debutalbums eine Moschee abdruckte. Die Texte enthalten zahlreiche Passagen aus dem Alten und Neuen Testament, den fünf Büchern Mose und dem Koran. Wir taten dies jedoch nicht, um zu provozieren, sondern weil wir uns ernsthaft mit den Texten beschäftigten. Obwohl wir aus Israel kommen, bot unsere Musik auch Arabern und Muslimen Möglichkeiten der Identifikation – und das ist tatsächlich passiert!
Ich bin der Meinung, dass Künstler ihre eigene Umwelt, die Realität, die sie umgibt, reflek-tieren und mit ihren Werken zum Nachdenken anregen sollten.

Kommen wir auf die Umwelt zu sprechen, in der du aufgewachsen bist und in der du noch heute lebst. Wie würdest du deine Heimatstadt Jaffa charakterisieren?

Jaffa ist eine sehr alte Stadt mit einer wechselvollen Geschichte. Sie wird ja sogar bereits in der Bibel, im Buch Jona, erwähnt. Als der Staat vor 75 Jahren gegründet wurde, war Jaffa eine arabisch geprägte Stadt. Als die Mehrheit der Menschen im Zuge des Kriegs 1948 floh, erschien es für das Regime sinnvoll, Jaffa zu einem Vorort von Tel Aviv zu machen. Das ist aber Politik, nicht die gesellschaftliche Realität der Stadt, die von allen drei Religionen geprägt ist. Jaffa ist wie ein kleines Stück Jerusalem.

Ich vermute, dass dich dieses Umfeld erheblich geprägt hat.

Definitiv. Jaffa hatte den größten Einfluss auf meine Persönlichkeit. Aufgewachsen bin ich mit dem Hören der Synagoge, dem Klang des Rufs zum Gebet aus der Moschee und den christ-lichen Prozessionen an Feiertagen. Häufig war ich an Silvester in der Kirche, nicht weil ich Christ wäre, sondern weil es kultureller Teil meiner Stadt war. Jaffa ist wohl die Stadt mit den meisten Feiertagen im Jahr, da die Feste der drei Religionen begangen werden. Als Kind hatte ich Freunde unterschiedlicher Herkunft und es war einfach interessant: die verschiedenen Sprachen, Bräuche und Küchen. Das gelungene Zusammenleben der Kulturen und Religionen, das ist die gute Seite.
Meine Großmutter, möge sie in Frieden ruhen, war Näherin in einer Textilfabrik. Die Fabrik gehörte meiner Familie und dort saßen rund 40 Frauen: Israelis, Juden, Araber, Christen und Muslime. Ich kann mich noch erinnern, als ich die Fabrik besuchte, lief ich zwischen ihnen he-rum. Sie sprachen und lachten miteinander. Mit einer Näherin namens Yusra, sie war Araberin, hatte meine Großmutter noch 30 Jahre nach der Schließung der Fabrik häufig Kontakt. Beide riefen sich gegenseitig an, sei es zu jüdischen oder muslimischen Feiertagen.
Diese Erfahrungen haben mein Schreiben beeinflusst und gewissermaßen mich grundsätzlich geprägt. Sie haben mir gezeigt, dass ein Zusammenleben möglich ist.
Natürlich gab es auch andere Seiten. Ich bin in einem Land aufgewachsen, in dem Nachrichten über Konflikte, Terror und unschuldige Opfer schon immer fast alltäglich waren.
Ich hatte einen Onkel, der nicht so friedlich war wie meine Großmutter. Er war Soldat. Ich mei-ne mich zu erinnern, dass er als Kriegsversehrter aus dem Jom-Kippur-Krieg nach Hause kam und harte Drogen zu nehmen begann. Damals kümmerte man sich nicht um traumatisierte Soldaten. Aufgrund dieser Tatsache war er Arabern gegenüber komplett anders eingestellt. Ich kann mich noch an eine Episode erinnern, als ich als Kind mit ihm im Auto saß. Wir fuhren an einer Reihe Taxis vorbei, einer der arabischen Taxifahrer sah mich und lächelte mich an – also lächelte ich zurück. Nachdem wir abgebogen waren, sagte er zu mir: „Vergiss nicht, dieser Ara-ber hat dich angelächelt, aber tief in seinem Herzen will er dich tot sehen. Er will dich töten.“ Wie du siehst, ich bin nicht in einer Blase groß geworden, in der alles rosarot und friedlich gewesen ist. Aber in dieser harten Realität habe ich zahllose schöne Geschichten des Zusam-menlebens erlebt, die mich bis heute prägen.

Mit der Zeit gewinnt man neue Erfahrungen, hat sich die Botschaft von Orphaned Land über die Jahre hin gewandelt?

Der Kern unserer Botschaft ist immer gleich geblieben. Ich denke, dass sie sich im Laufe der Jahre schärfer herauskristallisiert hat. Das liegt auch daran, dass wir mit der Zeit verstanden haben, dass auch der visuelle Aspekt eines Albums sehr wichtig ist. Das siehst du beispiels-weise an der Coverillustration des Albums „All Is One“, das die Symbole des Judentums, Chri-stentums und Islam zeigt. Deutlicher kann man die Botschaft visuell kaum übersetzen. Das zeigt sich auch an den Songtiteln, die auf den Alben zuvor manchmal etwas sperrig waren. Wir wollten das Album für die Hörer zugänglicher machen und haben prägnante Titel gewählt: „Brother“, „Children“, „All is One“ oder „Let the Truce be known“. Im Grund stellt das Album die äußerste Zuspitzung unserer Botschaft dar.
Der nachfolgenden Veröffentlichung „Unsung Prophets & Dead Messiahs“ liegt dieselbe Bot-schaft zu Grunde. Jedoch reflektiert es in erster Linie die Erfahrung, dass wir uns mit den Jahren verändern, dass wir wachsen und die Jahre vergehen, aber an der Situation um uns herum sich nichts ändert. Im Anschluss an das Höhlengleichnis von Plato, das er nach So-krates‘ Hinrichtung verfasste, fragen die Texte nach den Gründen, wieso sich nichts wandelt. Wir, Orphaned Land, ändern was – im Kleinen. Aber natürlich gelingt es uns nicht, Wunder zu vollbringen, und wenn man sich die jüngsten Ereignisse in Israel und Gaza anschaut, kann man auch verstehen, dass wir zu klein sind, um etwas zu bewegen. Aber was bleibt, ist Hoff-nung. Es ist nicht hoffnungslos. Jedoch, um in der Allegorie der Höhle zu bleiben, muss man im Hinblick auf das Handeln der Menschen schon feststellen, dass sich nichts ändert – das ist eine sehr deprimierende Erkenntnis.
Von daher ist das letzte Album ein Schritt zurück in die Selbstreflektion, weil wir spüren, dass sich seit Plato nicht viel getan hat. Die Menschen wissen mehr über Kim Kardashian als über Plato oder andere „unsung Prophets“. Das ist ein großes Problem und sehr deprimierend. Und ich denke, dass unser nächstes Album noch deprimierender sein wird – wenn auch noch mit derselben Botschaft. Denn das kleine Wunder wird auch weiterhin passieren, wenn wir auf die Bühne gehen. Wir bleiben der Botschaft treu. Wir dürfen und können nicht ignorieren, was mit uns als Menschen, Bürger dieser Region, als Eltern von Kindern passiert. Unsere Botschaft ist in der Welt und sie wird bestehen bleiben, selbst nachdem es uns irgendwann nicht mehr gibt.

Wie es sinngemäß auf dem Album heißt, „you can kill the Messiah, you can kill the prophet, but you can‘t kill the message“.

Genau. So ist es. Schau in die Geschichte. Es gibt viele Menschen, die nicht, wie Jesus Chri-stus, als Messias betrachtet werden. Sie waren aber Messiasse oder Propheten auf ihre Weise. Nimm beispielsweise Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Anwar Sadat, den Präsidenten Ägyptens, der erste arabische Machthaber, der mit Israel Frieden schloss oder den Premiermi-nister Israels Yitzhak Rabin. Allen ist gemein, dass sie ermordet wurden. Sie versuchten, um in der Allegorie zu bleiben, ihr Volk, die Menschen aus der Höhle zu befreien. Das heißt, es gibt Erlösung. Es gibt einen Himmel auf Erden. Der Himmel auf Erden ist möglich. Aber er beginnt bei dir und bei mir. Das Problem ist, dass die Menschen Angst haben, die Höhle zu verlassen. Sie schrecken vor dem Licht zurück. Wie es in unserem Song „The Cave“ heißt: „One can easily forgive a child who is afraid of the dark. But one cannot forgive a man who is afraid of the light“.

Die Arbeit mit Mythen und tradierten Narrativen ist ein durchgängiges Konzept eures Arbeitens.

Absolut. Wir mögen es, mythologische Geschichten auf unsere gegenwärtige Zeit zu pro-jizieren. Nimm zum Beispiel das Lied „Brother“ auf dem Album „All Is One“. Es handelt von Isaak und Ismael, den biblischen Brüdern, den Söhnen Abrahams, die als Stammväter aller jü-dischen und muslimischen Menschen angesehen werden. Jedoch projizieren wir diese Erzäh-lung auf den heutigen Konflikt. Sie zeigt, dass der Konflikt vor 4000 Jahren mit der Streitfrage ihren Anfang nahm, welches Kind mit Abraham auf dem Berg war. Daher heißt es im Song:„The lord blessed us both but we still fight and claim that kid on the mountain – what was his name?“ Aber ja, die Arbeit mit Mythen und Erzählungen sind wiederkehrendes Element in unseren Werken.

Stimmt. Wie auch euer Album „Mabool“, das sich am antiken Sintflutmythos orientiert. Aus welchen weiteren Quellen speist sich das Konzept?

Bis heute ist „Mabool“ wohl das magischste unserer Alben. Wie du im Vorgespräch bereits erwähntest, hat es unsere Karriere außerhalb von Israel und dem Nahen Osten eröffnet. Im kommenden Jahr feiert es tatsächlich sein 20-jähriges Jubiläum. Zu der Zeit, als wir an dem Album arbeiteten, war ich persönlich sehr an den unterschiedlichen Sintfluterzählungen in-teressiert; viele von ihnen las ich damals. Für das Songwriting nutzte ich die biblische Ver-sion als Vorlage. Anstelle der drei Söhne Noahs erschufen wir die drei Söhne der Sieben. Der Hintergrund hierfür bot ein Erlebnis von Freunden. Als Jugendliche experimentierten sie mit spiritistischen Sitzungen – aus Langeweile und auf der Suche nach Abenteuern. Sie berichte-ten, dass sie mit einem Geist oder so etwas in der Art kommunizierten. Dieser gab ihnen preis, dass sie die drei Söhne von Sieben seien: einer von ihnen war Jude, ein weiterer Muslim und der andere Christ. Sie erhielten auch die Symbole, den Löwen, Adler und den Davidstern, die später Eingang in den Song „Birth of the Three“ fanden. All diese Informationen habe ich den Notizbüchern entnommen, die meine Freunde während der Sitzungen geführt haben.
Ich beschloss den Sintflutmythos mit dieser verrückten Geschichte zu verknüpfen und auf Basis dieser neuen „Mabool“-Erzählung das zu reflektieren, was in unseren Tagen passiert. Das Album handelt von drei Helden, ein Jude, ein Muslim und ein Christ, die in ihre Gemein-schaften gehen und versuchen, die Menschen von ihrem bösen Handeln abzubringen, und dass ein friedliches Zusammenleben aller Religionen möglich ist. Sie scheitern und als Konsequenz überdeckt die große Flut das Land.

Vor einem Monat, am 7. Oktober wurde die Welt Zeuge des Scheiterns friedlichen Zusammenlebens in einer unvorstellbar entsetzlichen Brutalität. Wie hast du die Ereignisse unweit deines Wohnorts erlebt?

Es war halb sieben in der Früh, ich putzte mir die Zähne. Trotz Sabbat war ich schon auf; wie das so ist, wenn man Kinder hat. Plötzlich hörten wir die Sirenen. Ich überlegte noch, dass es am Sabbat keinen Probealarm oder Übung gibt, ob es sich vielleicht um einen Fehlalarm han-deln könnte. Dann hörte ich jedoch die Explosionen am Himmel. Es hat mich und meine Fami-lie vollkommen überrascht. Schockiert rannten wir gemeinsam zur nächstgelegenen Schutz-zone. Hierfür blieben uns eineinhalb Minuten, weiter südlich sind es beim Heulen der Sirenen teilweise nur zehn Sekunden. Der Beschuss hielt eine gefühlte Ewigkeit an, sie schossen wie verrückt. Einen solchen Angriff haben wir nicht für möglich gehalten. Es war Feiertag und wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den Massakern. Wir hatten keine Ahnung von dem, was auf dem Gelände des Nova Festivals passierte, dass womöglich 3000 bewaffnete Terroristen in Dörfer eingedrungen sind. Erst im Lauf des Tages, gegen Abend, bekamen wir ein Gefühl vom Ausmaß des Angriffs.

Die Ereignisse machen sprachlos und lassen einen schockiert zurück. Wann hattest du das Gefühl, dass die Menschen in deinem Umfeld darüber sprechen konnten?

Wir – vielleicht das ganze Land - brauchten zehn Tage, um darüber sprechen zu können. Niemand kann sich an ein solches Ereignis erinnern, auch wenn viele Nachkommen von Ho-locaustopfern oder Holocaustüberlebenden sind. Der Schock sitzt noch immer tief. Meine Frau weint immer wieder. Wir sind seitdem nicht mehr dieselben. Nichts ist wie zuvor.
Nicht allein der Angriff als solcher hinterlässt die tiefen Wunden, sondern es ist die barba-rische Art und Weise, das, was sie unbewaffneten Menschen, Frauen, Kindern, alten Menschen - teilweise Holocaustüberlebenden – angetan haben. Sie griffen keine Soldaten an, was bereits schlimm genug ist, weil ich jede Form von Gewalt verabscheue, ihre Opfer waren unschuldige Menschen. Dass sie Menschen vergewaltigten, enthaupteten oder lebendig verbrannten – ich möchte nicht weiter ins Detail gehen - ist kaum einzuholen. Niemals hätten wir uns vorstel-len können, dass Menschen fähig sind, solche Dinge zu tun. Als Jude weckt dies tiefsitzende Traumata der Vergangenheit, von denen wir dachten, dass wir sie bewältigt hätten. Wir haben uns immer gesagt, dass wir nun ein Land haben, dass wir keine Verfolgung oder Pogrome mehr erleiden müssen, und dann wachst du an einem Morgen auf und das alles passiert wieder. Nun wird viel über Israel und unsere Regierung gesprochen. Mit Sicherheit kann ich dir sagen, dass wir eigentlich nach Frieden und Sicherheit streben. Klar gab und gibt es immer Men-schen mit anderer Meinung – also Extremisten – auch in Israel. Aber wir sind erschöpft von unserer eigenen Geschichte, verfolgt, getötet zu werden und zu kämpfen. Es ist zermürbend, dass du, anders als Menschen in der Schweiz oder Neuseeland, keinen Frieden in dir selbst finden kannst. Es ist ein schreckliches Gefühl zu wissen, dass es Menschen gibt, die dazu aufrufen, dich zu eliminieren oder auszurotten; zu wissen, dass dir die Schuld an Problemen auf der Welt gegeben wird. Ich habe das Gefühl, dass das, was passiert ist, als auch die Ver-geltung durch die IDF Antisemiten weltweit wieder einen Grund geliefert hat, sich zu erheben. Demonstranten auf einer pro-palästinensischen Protestaktion in Australien riefen „Vergast die Juden“. In Paris werden Häuser, in denen Juden leben, und in der Türkei Synagogen mit Davidsternen besprüht. Wir reden hier nicht über das Jahr 1939, sondern über die Gegenwart. Das lässt mich über die Gründe nachdenken, wie es zu all dem kommen konnte. Juden sind nicht die einzigen, die Kriege geführt haben. Juden waren nicht die größten Eroberer oder Ko-lonialisten auf der Erde. Mir scheint, dass Juden immer noch das zweifelhafte Privileg zu Teil wird, auf eine so ungerechte Weise beschuldigt und verfolgt werden. Ich rede nicht über die Juden in Israel. Ich spreche über die Juden in Frankreich, im Vereinigten Königreich, in Italien, in Frankreich, überall. Sie haben immer noch Angst, ihre Davidstern-Halskette zu tragen, weil sie angegriffen werden könnten.

Die geschichtlichen Wurzeln des Antisemitismus ragen tief in die Vergangenheit, eine Vergangenheit die ihr in euren Songs auch verarbeitet.

Ja. Einer der Gründe ist die religiöse Perspektive, dass Juden sich als das auserwählte Volk Gottes verstehen. Diese Bevorzugung und das damit verbundene Selbstverständnis streut Missgunst. Schau in die Bibel, sie ist voll mit Geschichten über die Bevorzugung eines Sohnes vor allen anderen und das Unheil, das hieraus erwächst. Versteht man Gott als Vater, taucht dieses Motiv bereits bei Kain und Abel auf. Ebenso im Verhältnis zwischen Isaak und Ismael, Letzterer geht mit seiner Mutter in die Wüste, nachdem er von zu Hause vertrieben wurde. Die Auseinandersetzung zwischen Jakob und Esau und später Jakobs Begünstigung seines Sohns Joseph. Man erkennt auch, dass die Menschen nicht dazulernen und dass diese Handlungen im Kleinen weitreichende Folgen haben. Überträgt man dies auf das Selbstverständnis der Juden, von Gott auserwählt zu sein, stellt sich doch die Frage: Was ist das Besondere an Kobi, dass er als Jude auserwählt ist und Matthias nicht? Ist Kobi talentierter oder schöner? Wir können sehen, dass wir beide gut aussehen (lacht). Wir sind beide gebildet. Also warum sollte ich zu den Auserwählten gehören und du nicht? Ich denke, das schafft eine Situation, in der zum Beispiel die „Nicht-Auserwählten“ zeigen möchten, dass die „Auserwählten“ eben nicht besser sind und ihnen im Besonderen die Schuld zugeschoben wurde.
Da wir frei über alles sprechen können, würde ich einen weiteren Grund im Neuen Testament suchen, dass sich die Christen als die Auserwählten, als die wahren Kinder Gottes zählen, da sie in Jesus Christus den Messias sehen und nur über ihn der Weg ins Heil führt. Ähnlich verhält es sich mit dem Islam, er erkennt Mose, Abraham oder Jesus als Propheten an, aber in Mohammed sieht er den letzten Propheten. Daraufhin erheben Muslime denselben Anspruch wie Juden oder Christen zuvor.
Also ich denke, dass eine Quelle des Antisemitismus durchaus darin zu suchen ist, dass es im Judentum keine Gleichheit zwischen uns gibt. Wenn ich das sage, will ich überhaupt nicht die Verfolgung von Juden rechtfertigen. Es ist eher eine psychologische Betrachtung, welche Spannung im Verhältnis zwischen „Auserwählten“ und „Nicht-Auserwählten“ herrscht. Mir er-scheint es irgendwie rassistisch, wenn ich sage, dass ich auserwählt bin und du nicht.

Erschwerend kommt das in unserer Kirche über Jahrhunderte einflussreiche unheilvolle Narrativ hinzu, das den Juden die Schuld am Tod Jesu gibt.

Stimmt. Jesus lebte und starb als Jude. Sein Ziel war eine Reform des Judentums. Er scheute sich nicht davor, die Priester zu kritisieren und gegen Missstände anzukämpfen. Mit Sicher-heit machte er sich damit Feinde unter den Juden. Aber das Urteil über ihn sprachen die Rö-mer. Und er endete am Kreuz.
Es ist alles sehr komplex. Ich denke wirklich, dass die Juden dies nicht verdienen. Ich denke, dass die Opfer des Massakers am 7. Oktober es nicht verdient haben – wie es jetzt auch die unschuldigen Palästinenser nicht verdient haben zu sterben.

Es ist kein Geheimnis, dass du dich immer klar gegen jede Form von Militarismus und militärischer Gewalt positioniert hast. Wie siehst Du das Eingreifen der IDF in Gaza?

Wie kann man diese barbarischen Mörder, die sich in Tunneln hinter Zivilisten verstecken, zur Rechenschaft ziehen? Es ist einfach unmöglich. Es ist eine ausweglose Situation. Ich weiß nicht, wie man handeln soll. Einfach tatenlos zu sein ist keine Option, ebenso wenig in Ver-handlungen mit der Hamas zu gehen. Sie verbirgt nicht ihr Ziel, dass sie Israel vernichten will. Wie kann man Frieden schließen, wenn man die Hand ausstreckt und jemand schneidet dir die Hand ab? Oder wenn du weißt, dass sie deine Kinder und deine Frau töten werden, wie kannst du dann Frieden mit ihnen schließen?
Auch denke ich, dass das palästinensische Volk ein Opfer dieser Menschen ist. Sie haben nichts für ein besseres Leben in Gaza, nichts für das Wohlergehen aller Menschen dort getan. Sie haben Tunnel gebaut und Waffen gekauft. Wer stirbt, ist ihnen egal. Ich habe viele palästinen-sische Freunde und ich bin mir sicher, dass es unzählige friedliebende Palästinenser gibt. Die Menschen, ob Israelis oder Palästinenser in Gaza, möchten ein normales Leben führen – mit der Familie, mit Kindern an den Strand gehen, dort spielen. Niemand möchte sterben.

Sehr deprimierend angesichts dessen, was passiert ist und was passiert.

Das Problem und die Verantwortung sehe ich bei den Führern, den Regierungen und Macht-habern. Wie wir es auf unserem Album „Unsung Prophets & Dead Messiahs“ allegorisch the-matisieren: sobald es Führer gibt, die dazu in der Lage und bereit dazu sind, Frieden zu schlie-ßen, werden sie ermordet. Das ist unglaublich deprimierend!
In diesen Momenten, wie auch in diesen Tagen, kann die Hoffnung zu einem sehr, sehr kleinen Funken, zu einem winzigen Licht werden – aber sie existiert. Nietzsche sagte sinngemäß, dass die Hoffnung ein Fluch ist, weil sie das Leiden verlängert. Wenn die Jahre vergehen – ich wer-de in zwei Jahren 50 – muss man wirklich gegen Resignation und Zynismus ankämpfen, weil man erkennt, dass die Menschen nicht aus der Höhle wollen. Das Einzige, was ich tun kann, ist Songs schreiben. Meine einzige Möglichkeit besteht darin, einfach weiterzumachen. Denn die Idee vom Frieden, meine Überzeugung und die Botschaft Orphaned Land’s werden ewig le-ben – auch dann, wenn es uns irgendwann nicht mehr geben wird. Wer weiß, vielleicht werden unsere Lieder oder Texte der Soundtrack einer Friedensbewegung sein. Wir müssen weiterhin daran glauben, dass es möglich ist! Selbst wenn alle anderen zuvor scheiterten, haben wir kei-ne andere Wahl als es weiter zu versuchen. Die Alternative ist, dass wir der Barbarei verfallen und uns gegenseitig töten.

Fühlst du dich in deinen Bemühungen stark zurückgeworfen? Wie geht ihr als Band mit der Situation um?

Ja, wir fühlen uns stark zurückgeworfen. Zurzeit ist Orphaned Land zu einem kleinen Leuchtturm der Hoffnung geschrumpft. Nach dem 7. Oktober haben wir auf unseren Social Media-Kanälen gepostet, dass wir zu unseren israelischen Mitmenschen stehen. Wir betonten sogar, dass wir uns nicht gegen das palästinensische Volk richten. Dennoch haben 2000 Fans uns die Gefolgschaft gekündigt und uns als Heuchler, doppelzüngige Lügner, Unterstützer der Apartheid und des Völkermords bezeichnet. Es ist ein schreckliches Gefühl, von deinen Fans so behandelt zu werden. Sie lassen dich nicht einmal in einer der größten, wenn nicht der größten Tragödie dieses Landes trauern. Aber es ist, wie es ist. Wenn wir in Zeiten der Trauer zu den Menschen stehen wollen, tun wir dies. Als Künstler geht es nicht darum, ausschließlich Dinge zu sagen, von denen du weißt, dass sie deine Fans nett finden. Du musst die Wahrheit sagen, sagen, wie du dich fühlst. In der Vergangenheit haben uns auch immer israelische Fans ver-lassen, weil wir unsere Position gegenüber der israelischen Politik deutlich artikuliert haben. Wenn Fans gehen, ist es letztlich ihr Verlust. Dennoch schmerzt es sehr, wenn Leute sagen, dass sie unser Schaffen 20 Jahre lang verfolgt und wir sie nun enttäuscht haben. Und das nur, weil wir keine „Free Palestine“ Posts veröffentlichten. Was soll ich da machen? Ich kann nicht gleichzeitig mit 2000 Menschen über das Internet eine Debatte führen. Es ist unmöglich. Diejenigen, die gehen wollen, sollen gehen. Andere werden kommen. Die Lieder sind hier für immer. Wer weiß, vielleicht werden sie in 200 Jahren der Soundtrack zum Sieg des Friedens.

Ein jüdischer Autor, Tomer Dreyfus, hat in einer YouTube Podcast Show erzählt, dass es ihm seit den Anschlägen unmöglich ist, mit seiner Familie, Verwandten und Freunden in Israel zu sprechen. Wie nimmst du die innerisraelische Situation wahr?

Bereits vor dem 7. Oktober war es in Israel unmöglich zu kommunizieren. Israel war nach fünf Wahlen in zwei Hälften geteilt. Ich denke, dass das Regime von Netanjahu die israelische Gesellschaft buchstäblich zerstört hat. In seiner 25-jährigen Amtszeit schafften er und seine Untergebenen es, ein Narrativ zu etablieren, in dem alle Linken Verräter sind – ja teilweise nicht als Juden betrachtet wurden. Ich bin ein offen bekennender Linker. Es war für mich unmöglich, gegen Netanjahu zu argumentieren, ohne dass Fans uns verließen. Gelassen habe ich es dennoch nicht. Ich folge stets meinem Herzen, sei es zu innerisraelischen Themen oder zum aktuellen israelisch-gazaischen Krieg. Aber es war vorher bereits unmöglich, einen Dialog innerhalb Israels zu führen. Gefühlt standen wir in den letzten fünf Jahren am Rande eines Bürgerkriegs. Linke Demonstranten wurden angegriffen, die linksliberale Meinung als solche unterdrückt.
Der Krieg hat der linken Bewegung den Rest gegeben. War es vorher schwer, linke Positionen zu vertreten, ist es jetzt unmöglich. Es gibt keinen Raum mehr für eine liberale Diskussion. Menschen, von denen ich wusste, dass sie links waren, sprechen jetzt darüber, Gaza komplett auszulöschen. Die traumatische Erfahrung des barbarischen Angriffs hat den Menschen den Kopf verdreht und sie grundlegend verändert. Jeden auf seine Weise. Und ich glaube nicht, dass wir jemals dieselben sein werden wie zuvor.

Was denkst du, hilft die Eskalation Netanjahu innenpolitisch?

Vor dieser Eskalation waren seine Umfragewerte im Sinkflug. Nach dieser Justizreform be-gannen die Menschen endlich zu verstehen, was für eine Person Netanjahu ist. Aber selbst jetzt übernimmt er keine Verantwortung, das hat er noch nie gemacht! Ich denke, dass dies auf lange oder mittlere Sicht schaden wird und dass dies den Abwärtstrend verstärkt. Angenom-men, der Krieg gegen die Hamas wird gewonnen, sodass diese aus Gaza verschwindet, wird niemand ihm die Anerkennung für das Erreichte zollen. Er steht am Ende seiner Karriere, wo-rüber ich sehr froh bin. Ich kann es kaum erwarten, dass er uns in Ruhe lässt.

Hast du Angst, dass ihm jemand noch Radikaleres folgt?

Bereits jetzt besteht ein Teil seiner Regierung aus Extremisten. Aber ich glaube, dass diesen Positionen zukünftig die Unterstützung versagt bleibt. Vielleicht gibt es in Kriegszeiten ein Commitment, nicht aber auf lange Sicht. Demgegenüber kann man jedoch beobachten, dass der Extremismus und extreme politische Positionen überall zunehmen. So etwas passiert zurzeit auch in Holland, in Italien oder auch in Deutschland. Daher ist es letztlich schwer abzu-schätzen, was passieren wird. Daher denke ich, dass wir uns global gesehen auf keinem guten Weg befinden. Auch die Angst vor einem dritten Weltkrieg ist wieder da. Das Problem ist: Die Menschheit lernt nicht aus der Geschichte. Wir lernen nicht aus den tragischen Ereignissen in unserer Geschichte.
Jedenfalls hoffe ich, dass wir eine bessere Regierung haben werden. Diese müsste aber tat-sächlich mindestens 20 Jahre in der Verantwortung sein, denn die Zeit wird es brauchen, um den gesellschaftlichen Schaden wieder zu beheben. Falls der Schaden denn zu beheben ist. Lange Zeit habe ich das Problem innerhalb Israels gar nicht so extrem wahrgenommen, da ich vor der Coronapandemie sehr viel unterwegs war und mich auf die Aufgabe konzentrierte, die Verständigung zwischen den Menschen im Nahen Osten voranzutreiben. Während der Pande-mie war ich förmlich über den Zustand der Gesellschaft entsetzt. Es kam so weit, dass das Re-gime Netanjahus jeden außerhalb seines Zirkels angriff: die Polizei, die Armee – niemand war sicher. Jeder, der nicht bedingungslos zu ihm stand, wurde als Linker gebrandmarkt, selbst diejenigen, die eigentlich komplett rechts waren. Das Schlimme: die Menschen folgten diesem Narrativ. Es war deprimierend und hoffnungslos.

In einer deutschen Fernsehdokumentation der Sendung „Rockpalast“ im WDR aus dem Jahr 2018 über Orphaned Land trägst du den Kapuzenpullover mit der Illustration „All is One“ - wie auch jetzt bei un-serem Gespräch. Trägst du ihn zurzeit auch, wenn du das Haus verlässt?

(Lange Pause) Lass mich dir die Wahrheit sagen, Matthias. In diesen Tagen trage ich ihn draußen nicht. Das ist die traurige Wahrheit.
Gestern schrieb mir ein Fan, dessen beide Kinder in der Armee dienen. Er weiß nicht einmal, wo sie eingesetzt sind, ob im Norden oder in Gaza, weil sie ihn es nicht wissen lassen. „Ich sitze zu Hause, höre deine Lieder und weine die ganze Zeit. Aber wenn ein Lied kommt, in dem ihr Ara-bisch singt, muss ich das Lied überspringen. Schau, was sie mir angetan haben: Meine beiden Kinder sind im Krieg. Ich bin ein Mann des Friedens, der an ein Zusammenleben geglaubt hat, und nun kann ich nicht einmal mehr die arabische Sprache hören oder akzeptieren.“
Es ist schwer, den Pullover auf der Straße zu tragen. Aber zu Hause, dort trage ich ihn. Denn das bin ich. Das ist Jaffa. Das ist mein Jaffa. Das ist mein „Orphaned Land“ und daran muss ich glauben!
Ohne Hamas oder Hisbollah, da bin ich mir sicher, wird es da draußen Menschen geben, die eines Tages aufstehen werden. Und wir werden es schaffen – für unsere Kinder, Enkelkinder.

Diese Hoffnung lässt sich auch aus dem Titel des erst kürzlich veröffentlichten Livealbums „A Heaven You May Create“ lesen. Dieser Himmel scheint im Moment unerreichbar zu sein. Siehst du noch eine Perspektive für die Zukunft?

Die Welt des Zusammenlebens, des Friedens und der Brüderlichkeit existiert jedes Mal, wenn wir auf die Bühne gehen. Es passiert, wenn wir in Istanbul spielen. Es passiert, wenn wir in Berlin spielen, wenn das Publikum aus Juden, Muslimen, Christen, Atheisten, Schwulen, Les-ben, Heterosexuellen besteht. Für zwei Stunden werden wir eine Familie. Die Hoffnung wird weiterhin kurz erfahrbar bleiben.
Ein Ausweg aus dem ewigen Teufelskreis der Gewalt – nicht nur in Israel und Gaza - wird nur durch eine Veränderung unseres Bildungssystems möglich sein. Um im Bild unseres Albums „Unsung Prophets & Dead Messiahs“ zu bleiben: Der einzige Weg aus der Höhle ist es, die Menschen von der Welt außerhalb zu unterrichten. Denn große Teile der Dinge, die man in der Schule lernt, sind für das Leben nicht wichtig. Mir wurde nicht beigebracht, wie man einen Dialog führt, wie man jemandem zuhört, wie man Probleme oder Konflikte mit Feinden löst –aber ich wurde zwölf Jahre in Mathematik unterrichtet. Was bringt mir Trigonometrie in der jetzigen Situation? Warum wurde nicht mit uns philosophiert? Warum sind die Spielzeuge, mit denen wir als Kinder spielen, Waffen? Warum spielen wir mit fünf Jahren bereits Videospiele, bei denen man nur zum nächsten Level gelangt, wenn man alle tötet? Wir haben bereits in den Köpfen unserer Kinder Gewalt normalisiert, wir haben den Krieg normalisiert. Ich befürchte jedoch, dass es diese Veränderungen in Bildung und Erzie-hung niemals geben wird, denn im Grunde sind Politiker nicht an einer Gesellschaft interes-siert, die Fragen stellt und die gelernt hat, Konflikte ohne Waffen zu lösen.
Das ist der einzige Ausweg aus dem ewigen Teufelskreis, aber ich sehe diese Veränderungen nicht kommen.

Hast du schon eine Ahnung, in welche Richtung dein nächstes musikalisches Projekt mit Orphaned Land gehen wird?

Ich denke, dass wir als Nächstes an einem Studioalbum arbeiten werden. Auch auf die-sem Album werde ich unserer Botschaft treu bleiben, aber mich vertieft mit dem Mangel an Menschlichkeit und meiner Melancholie über den Unwillen der Menschen, die nicht gewillt sind, die Höhle zu verlassen, auseinandersetzen. Wenn wir an einer Lösung interessiert sind, müssen wir die Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit der Menschen angehen. Denn darauf zu hoffen, dass sich das Bildungssystem ändert, wird vergebens sein. Wie das Album klingen wird, weiß ich nicht – aber es wird wahrscheinlich düster sein. Mit aller Wahrscheinlichkeit werde ich warten, bis der Krieg endet, und mich als Erstes sammeln, das Vergangene verarbei-ten, bevor ich ans Schreiben gehe.

Ihr plant im kommenden Jahr auf einer großen Europatournee euer Bandjubiläum nachzufeiern. An-gesichts dessen, was weltweit passiert, habt ihr Angst um eure Sicherheit? Plant ihr die Tour zu verschieben?

Ehrlich gesagt, wir wissen zurzeit nicht, was wir tun sollen. Einige Bandmitglieder haben tatsächlich Angst. Ein unkalkulierbares Risiko möchten wir nicht eingehen. Wir haben viele enttäuschte Fans. Vielleicht will einer von ihnen uns verletzen. Niemand soll Zeuge von Ge-walt an einer unserer Shows werden. Wir haben ein Konzert in Lyon geplant. Dort wurde eine jüdische Frau fast zu Tode geprügelt, Hakenkreuze an ihre Tür gemalt. Das bringt mich zum Nachdenken. Ich habe die Tour-Veranstalter gebeten, mit den lokalen Behörden zu sprechen, welche Sicherheitsvorkehrungen seitens der Polizei getroffen werden können.
Meine Frau will nicht, dass ich auf Tour gehe. Weißt du, bevor ich Kinder hatte, wäre ich auf Tour gegangen, egal was hätte passieren können. Aber so ist es nicht mehr. Ich bin Vater und ich möchte nicht, dass meine Kinder Waisen werden. Ich möchte nicht, dass es noch weitere Waisen gibt.
Wir warten mit einer Entscheidung noch ab. Eine Absage der Tour würde mich, wegen des mo-ralischen Schadens, den wir erleiden würden, sehr schmerzen. Denn wir möchten versuchen, die Flamme der Hoffnung, mag sie auch noch so klein sein, am Leben zu erhalten. Falls wir gezwungen sein werden, die Tour abzusagen, wäre dies eine Fortführung des Desasters, das am 7. Oktober seinen Anfang nahm.
Ich will nicht, dass Angst und Terror über uns siegen.